Die Wolken sind zum Greiffen nah, das Blau des Himmels wirkt stärker, etwas dunkler. Kühe und Schafe weiden auf saftig, grünen Hügel, sie werden gespiegelt im See. Ein leichter, angenehmer Wind weht, haucht den Bäumen Leben ein. Die Schönheit dieser Landschaft nimmt mich grad völlig mit, ich bin tief berührt.
Lago de Tota. Der grösste See Kolumbiens liegt auf über 3000 Metern über Meer und ist etwas grösser wie der Zugersee. Eingebettet in grüne Hügel liegt der See im Gebiet Boyacá, ein paar Stunden nördlich von Bogotá. Nach einem guten Monat Leben in Grossstädten, bin ich wieder unterwegs, diesmal, abseits meines Reiseführers. Der Lago de Tota ist auf über 680 Seiten meines Kolumbien-Buchs unerwähnt. Warum, ist mir ein grosses Rätsel. Denn, ich bin Fan von allem hier, es ist einfach ganz ganz fest schön. Ich frage mich, warum mir dieses Gebiet so nahe geht. Schon lange hat mich nichts mehr so berührt. Ich dachte eigentlich, ich habe schon so viel gesehen, mich kann nicht mehr so schnell etwas umhauen. Dann wird mir plötzlich klar, es sieht aus wie in der Schweiz hier. Nach vier Monaten Reisen realisiere ich, dass mich fantastische Landschaften, wie sie auch in der Schweiz typisch sind, eben doch am meisten, oder sagen wir sehr fest, berühren. Vielleicht habe ich auch tatsächlich ein wenig, nur ein ganz klein wenig lange Zeit nach der Schweiz. Wie auch immer, ganz alles sieht nicht schweizerisch aus hier. Der See hat ein weisser Sandstrand. Wirklich! Man muss sich vorstellen, die ganze Region liegt 500 Meter höher wie die Spitze des Säntis. Wenn die Sonne scheint, kann die Temperatur trotzdem bis auf 24 Grad raufklettern. In der Nacht wirds kalt, weit unter zehn Grad. Und dann taucht da plötzlich ein grosser, weisser Sandstrand auf. Es ist zum die Augen reiben, wie eine Fata Morgana. Der Sand ist fein wie in der tiefen Karibik auf Little Corn Island. Das sieht so krass komisch aus, wie ein Naturwunder, einfach so schön, an der Grenze zu unecht. Ich ziehe mir die Socken aus und lege mich in den Sand, schliesse die Augen und frage mich, gibt’s das wirklich..?! Ich bin überwältigt.
Das Foto unten zeigt die Sicht aus meiner Bleibe, aus meinem Zimmer (!!!)
Der Lago de Tota hat mir mal jemand empfohlen, ist also ein Geheimtipp. Das ganze Gebiet ist komplett untouristisch, ich habe drei Tage keinen einzigen nicht-Kolumbianer gesehen. Das ist toll, es ist so ein Gefühl des Entdeckens. Wenn ich Städte, Plätze, Landschaften besuche, die im Reiseführer als Highlight gelistet sind, dann weiss ich, es ist wahrscheinlich schön da, sonst wärs ja nicht dort drin. Aber ich weiss auch, dass da schon ganz viele Menschen waren, und dass diese Kirche, dieser Vulkan oder dieser Strand schon millionenfach in irgend welchen Fotoalben oder Festplatten darauf warten, angeschaut zu werden. Es kommt mir dann amix so als Pflichtübung vor: Soo jetzt kommt der Remo, der 52`300`227igste Besucher der nun auch noch sein Föteli schiesst. An diesen Touristen-Orten stehen auch perfekt ausgerüstete Hotels bereit, fancy Restaurants verwöhnen den Europäischen Feinschmecker-Gaumen. Ich sehe Dinge, und das können verdammt schöne Dinge sein, die schon Millionen Reisende vor mir bestaunt haben. Das ist ja überhaupt nichts Schlechtes, und kann auch ein sehr sehr beeindruckendes Erlebnis sein. Aber wenn man einen Ort besucht, welcher nicht als Reiseziel bekannt ist, und auch null, oder sagen wir sehr sehr wenige touristische Infrastruktur bietet, dann ist das einfach nochmals etwas besonderer. Exklusiver irgendwie. Aber, dafür auch mit weniger Komfort. Da ist nichts auf Touristen ausgerichtet. Wifi ist nicht vorhanden, nirgends, da bringt auch meine Kolumbianischen Nummer nichts. Restaurants sind nur beim genauen Hinsehen als solche zu erkennen. Und es gibt in allen genau das Selbe: Rindfleisch oder Poulet mit Reis, Bohnen und frittierten Bananen, das Standartmenu in Zentral- und Südamerika. In den einfachen Unterkünften erinnert der Druck der Duschbrause eher ans Abtropfen am Pissoir, als an einen Regenwald. Und die Matraze ist entweder feucht oder bickelhart. Mit etwas Pech, beides. Das alles ist aber so was von kein Problem, wenn man dafür Naturwunder wie der Lago de Tota bestaunen kann, der komischerweise oder zufällig noch niemand entdeckt hat. Genau diese Dinge aufzuspüren machen das Reisen eben zu dem was es ist: Das Grösste!
Tapettenwechsel
Und weil ich so Freude habe an Orten, die von Reisenden in der Regel ausgelassen werden, bleibe ich abseits des Reiseführers. Ich wechsle aber die Tapette. Ich reise in eine Region, die unterschiedlicher nicht sein könnte. Hellblaues Wasser, Palmen, Dschungel. In Kolumbien kann man ein paar Stunden reisen, und man ist in einer völlig, wirklich, völlig anderen Welt. Ich bin wiedermal in der Karibik. Aber nicht an den bekannten Stränden um Cartagena oder Santa Marta. Ich bin in Capurgana. Zusammen mit Sapzurro ist Capurgana das letzte Kolumbianische Küstendorf vor der Grenze zu Panama. Von Sapzurro kann man innerhalb einer halben Stunde über einen Dschungelhügel von Südamerika nach Zentralamerika, nach Panama laufen, in das kleine Fischerdorf «La Miel». Die drei Dörfer sind völlig abgeschnitten vom Rest ihrer Länder, es fahren keine Auto. Das Gebiet ist nur übers Wasser oder mit Kleinflugzeugen erreichbar.
Und was mach ich hier? Zwei Gründe. Grund eins: Dieses Gebiet ist bekannt für Riesenschildkröten, meine Liebelingstiere. Also die Schildkröte allgemein, riesig muss die nicht unbedingt sein. Die hier seien es aber, hat mir mal jemand ganz begeistert erzählt. Zwischen April und Juni kommen sie jeweils an den Strand und legen hier ihre Eier. Toll, dachte ich, als ich gesehen habe wo das liegt. Das wäre dann der Grund zwei: Ich bin seit bald über drei Monaten in Kolumbien, brauche also einen neuen Stempel, um noch etwas länger zu bleiben. Da kann ich schnell über die Grenze und in Panama einen neuen Stempel holen, dachte ich. Auch das hat mir die selbe Person erzählt. Stempel und Schildkröten, darum bin ich hier. Natürlich auch weil ich es sehr reizvoll finde, an einem Ort zu sein, welcher vom Massentourismus noch weitgehend unentdeckt ist und auch in meinem Reiseführer nicht mit einem Wort erwähnt ist.
Capurgana hat zwar einen kleinen Flughafen, ich konnte aber keinen Flug direkt hier hin buchen, mir blieb darum nur die beschwerliche Variante: Zuerst von Medellin in das recht hässliche, kleine Küstenort Nicoclí, und von dort auf einer etwa 90-minütiger Schifffahrt rüber nach Capurgana. Das Dorf wurde vor zwanzig Jahren schon als Ort mit grossem touristischem Potenzial entdeckt. Damals wurden wie wild Hotels aus dem Boden gestampft. Dann kamen die Farcs, übernahmen Kontrolle des gesamten Grenzgebiets Kolumbien-Panama. Logisch, dass danach keiner mehr Ferien machen wollte hier. Das Gebiet wurde offiziell für gefährlich erklärt. Seit ein paar Jahren haben sich die Farcs zurückgezogen. Geblieben sind Dutzende, teils schon fast unheimliche Hotelruinen, aus einer Zeit in der Capurgana auf dem besten Weg war, ein touristisches Ferienparadies zu werden. Naja, ein Paradies ist es tatsächlich, einfach nach wie vor nicht wirklich touristisch. Seither wurde Capurgana irgendwie vergessen. Inzwischen gibt es wieder ein paar Unterkünfte. Eines davon gehört zum Teil dem Zürcher Silvio, der nach Capurgana, ans Ende der Welt ausgewandert ist. Er lebt seit fünf Jahren in der völligen Abgeschiedenheit in diesem Karibikkaff, dass nicht sonderlich viel zu bieten hat. Die touristische Infrastruktur ist äusserst dünn, der Strom fällt immer wieder aus. Silvios Hostal ist das einzige mit einem mehr oder weniger funktionierenden Wifi.
Der bald 60-jährige Zürcher hatte keine Lust mehr auf die Kälte in der Schweiz. Er wollte an einen Ort leben, wo er das ganze Jahr FlipFlops tragen kann und ein kurzärmeliges Hemd. Er lebt bereits seit fünf Jahren hier. Für mich nicht ganz einfach vorzustellen. Silvio zeigt mir das ganze Dorf, auch die Hotelruinen. Zusammen mit seiner Kolumbianischen Frau wohnt er in dem wohl luxuriösesten Haus im Dorf. Er könne sich kein besseres Leben vorstellen, wie hier in Capurgana.
Aber ich bin ja nicht nur zum Plausch hier. Ich habe zu tun. Ich muss rüber nach Panama, um einen neuen Stempel zu holen. Am ersten Tag bereits nehme ich das Schiff rüber nach Sapzurro, das Dorf, am Grenzstein zu Panama. Sogleich nehme ich auch den Spaziergang in Angriff, über den Dschungelhügel nach «La Miel» in Panama.
Es ist feucht und heiss, wie ich das bereits aus dem Amazonas kenne. Bei der kleinsten Anstrengung läuft der Schweiss. Zuoberst auf dem Hügel ist der Grenzposten. Da stehen ein paar Kolumbianische und Panamaische Soldaten voll ausgerüstet mit Schusswesten und langärmeligem Tarnanzug. Das muss angenehm sein bei dieser Bruthitze. Ich muss den Pass zeigen und darf passieren. Ein paar Kolumbianische Touristen machen noch Föteli. Ist natürlich lustig, mitten im Dschungel, mit einem Fuss in Südamerika und mit dem anderen in Nordamerika zu stehen, auf zwei Kontinenten also. Ich mach natürlich auch das obligate Selfie. Nun bin ich also wieder in Panama, wer hätte das gedacht. Den Ausreisestempel habe ich in Capurgana bereits besorgt. Ich laufe den Hügel runter nach La Miel. So ein komisches Gefühl, einfach plötzlich nicht mehr zuhause in Kolumbien zu sein. Warum gehört dieses La Miel eigentlich zu Panama, da komplett abgeschnitten vom Rest des Landes?
Warum geht der Grenzstrich durch diese drei Dörfer? Das habe ich einen alten Mann gefragt. Er schaute mich etwas verwundert an, wartete eine Weile mit der Antwort, meinte dann aber: «Der Grenzstrich war zuerst da.» Macht Sinn, finde ich. La Miel selber ist nichts besonderes, noch eine schöne Beach. Aber das Dorf sieht aus wie nach einem Erdbeben. Wiele Häuser sind keine mehr, überall Ruinen und Dreck, und es riecht unschön. Krank aussehende Hunde strielen einem um die Beine. Den selben älteren Mann, ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern, obwohl wir uns vorgestellt haben. Ich frage ihn, wie ich nach Puerto Obaldía komme, wann das Schiff fährt. Puerto Obaldía ist der Ort neben La Miel, dort hat es einen kleinen Flugplatz. Dort kriege ich den Stempel, habe ich im Interent gelesen. «In einer halben Stunde», sagt er etwas unsicher. Also laufe ich zu diesem kleinen Steg. Heute fahre kein Boot, sagt mir ein mittelmässig freundlicher Typ, der gerade aus seinem Schiff auf den Steg klettert. Ob er mich nicht rasch hinbringen könne, frage ich ihn. «Ja, für 30 Dollars.» Sonst müsse ich zurück nach Capurgana und von dort aus schauen. Mit wenig Freude gehe ich zurück nach Capurgana, das grösste dieser drei Dörfer. Dort sagt mir Silvio im Hostel, er habe herausgefunden, dass wenn man den Stempel auf der Migracion in Bogotá oder Medellín machen lässt, kostet das nur etwa 30 Dollars, vielleicht lohne sich dieser ganze Aufwand gar nicht. Lohnt sich tatsächlich nicht, finde ich. Ich verzichte also darauf, nochmals zu probieren, über die Grenze zu gelangen. Ich habe von Reisenden gehört, eine Visaverlängerung kostet einige Hundert Dollars. Wie auch immer, das mit dieser Stempelgeschichte geben ich auf hier, und versuche es auf der Migration in Medellín, ich geh ja eh nochmals zurück.
Nun, will ich endlich die Riesenschildkröten sehen. Im Hostal lerne ich den Spanier Alejandro kennen, er möchte auch. Wir erkundigen uns, an welchen Stränden die denn am meisten anzutreffen sind. Wir müssen nach Acandí, ein Dorf, 30 Minuten Schifffahrt südlich. Die Riesenschildkröten kommen nur in der Nacht. Am nächsten Tag gehen wir also auf den späten Nachmittag nach Acandí, checken in einer Unterkunft ein. Was für ein richtig hässliches Dorf. Hier ist einfach nichts schön, nicht mal die Beach. Restaurants gibt’s keine, es stinkt. Beim Metzger werden Sauen in Reih und Glied an Fleischerhacken hängend präsentiert. Wir kaufen uns ein paar Brötchen bei einem Beck und gehen dann an die Beach. Es ist bereits dunkel. Überall sehen wir die Spuren der Schildkröten. Ein Strand voller Dreck und angeschwemmtem Abfall, und wir sitzen mittendrin auf einem umgeknickten Palmenstamm. Etwas später essen wir unsere Brötchen, sie schmecken uns nicht. Trotzdem, es ist irgendwie schön. Wir freuen uns auf die Schildkröten, wenn sie dann endlich aus dem Meer kommen, und ihre Eier legen. Es hat ja überall Spuren, die müssen ja kommen, sind wir mit einer guten Portion Zuversicht überzeugt. Alejandro und ich reden stundenlang über Gott und die Welt, laufen den Strand rauf und runter, leuchten mit der Taschenlampe alles aus. Aber sie kommen einfach nicht. Noch nicht, denken wir, und gehen zurück in die Unterkunft im Dorf. Wir legen uns hin für ein paar Stunden und gehen so um zwei Uhr Nachts nochmals raus. Der Himmel ist sternenklar. «Wir haben Glück», sage ich zu Alejandro, denn normalerweise regnet es hier fast jede Nacht. Wieder laufen wir der Beach entlang, etwa 20 Minuten, immernoch werden wir nicht Zeuge einer Schildkrötengeburt. Wir bemerken aber, dass plötzlich die Sterne weg sind. Irgendwie unheimlich, es ist stockfinster. Die Batterie von Alejandros Taschenlampe wir immer schwächer. Wir entscheiden uns zurück zu gehen, das Dorf ist in diesem Moment etwa 30 Minuten Fussmarsch entfernt. Ein paar Sekunden danach beginnt der Regen. Und wenn es regnet hier, dann ist das kein lauer Sommerregen. Es geht keine 20 Sekunden und wir sind pflotschnass, wirklich komplett durchnässt. Als Taschenlampe habe ich mein iPhone 6 dabei. Ich versuche die Öffnungen mit den Fingern zuzudrücken und halte es in meine Unterhose. Auch die ist nass, aber im Vergleich ist das der trockenste Ort, den ich im Moment zur Verfügung habe. Es regnet in Strömen, Alejandros Taschenlampe wird immer schwächer. Wir wissen, ohne dieses Licht, werden wir den Weg ins Dorf nicht zurückfinden. Den es gibt nur ein Strässchen dass wir erwischen müssen, das zur Beach führt, sonst ist da nur Dschungel. Wir gehen immer schneller. Die Feuchtigkeit lockt die Tierwelt an, immer mehr Riesenkröten und Krebse tummeln sich im Sand. Das sind genau diese beiden Tiere die mir, ich würde nicht sagen Angst machen, aber mir schon ziemlich unangenehm sind. Es regnet weiter, erbarmungslos. Zwischen Beach und Dschnungel hat sich ein Bach gebildet. Da die Taschenlampe nur noch einige Meter ausleuchtet, müssen wir in diesem Bach laufen, damit wir den Weg erkennen. Ich bin direkt hinter Alejandro, halte sein T-Shirt und laufe einfach. Ab und zu sehe ich im immer schwächer werdenden Lichtkegel der Taschenlampe, Riesenkrebse vorbeihuschen. Ich schliesse darum die Augen, halte das T-Shirt noch etwas mehr, und laufe, knietief im Bach. Immer wieder spüre ich wie Frösche und Kröten gegen meine Beine springen, ab und zu zwackt es an meinen Füssen, ich gehe mal davon aus, dass das Krebse sind. Es ist der blanke Horror. Ich will nur noch da durch, in mein Bettli. Immer wieder sagt Alejandro: «Passiert das wirklich oder ist das ein fackin` Albtraum?!» Die grösste Sorge in diesem Moment ist aber nicht meine durch Krebse und Sandfliegen verstochenen Füsse und Beine, sondern mein iPhone. Bitte Lieber Gott, mach dass mein Handy diesen Horror überlebt. Ich sagte Gott, dass mich von mier aus neben den Krebsen auch die Kröten beissen dürfen, aber bitte lass mein iPhone leben!! Mein iPhone hat tatsächlich überlebt. Krass. Ach, ich habe gar noch nicht erwähnt, wir haben keine Riesenschildkröten gesehen. Dafür ganz viele andere Tiere. Am nächsten Tag zeugen vor allem meine Beine von diesem Erlebnis der anderen Art.
Ich bin zurück in Capurgana, es ist bereits mein letzter Tag hier. Ich liege am wunderschönen Strand des Dorfes. Was waren nochmals meine Gründe, warum ich überhaupt hier rauf gereist bin? Manchmal gehen Pläne nicht auf. Aber sind Erlebnisse, die im Moment zwar nicht sehr angenehm sind, nicht die besten Geschichten, die lustigsten Erinnerungen? Ich verlasse Capurgana mit etwas lädierten Beinen, aber auch mit einem Schmunzeln.