Remo MüllerKolumbien5 Comments

Flughafen Bogota, El Dorado. Ich sitze hier, habe ein totales Gefühlschaos. Es hört sich abgedroschen an, aber es gibt nun mal diese zwei Seiten. Ich vermisse meine Grosseltern und all meine Lieblingsmenschen. Ich vermisse mein Bett, mein Winterthur, ich vermisse Rivella grün (!!) Ich freue mich auf meine erste Dusche zuhause, die erste St.Galler Bratwurst, die erste Ovi, auf mein Klavier, mein Balkon. Diese fast sechs Monate auf Reisen sind zu Ende. Schon bald wird all das nur noch Erinnerung sein. Das macht nachdenklich, etwas traurig auch. Natürlich sind es unendlich gute Erinnerungen, bereichernde Erlebnisse und unvergessliche Eindrücke. Ich habe Erfahrungen gemacht, die mich weiterbringen. Ich durfte Menschen kennen lernen, die ein so unglaublich anderes Leben führen. Menschen mit absolut null Perspektive. Die kennen dieses Wort gar nicht. So viele Menschen leben einfach vor sich hin, überleben. Die einen sind zufrieden dabei, andere weniger. Wie bei uns. Nur haben wir alles, viele Menschen, zum Beispiel in Nicaragua, das ärmste Land auf meiner Route, haben nichts. Man hört immer wieder, dass diese «armen» Menschen glücklicher seien wie bei uns. Tatsächlich habe ich diese Erfahrung gemacht. Gebeutelt von ihrer Vergangenheit, blieb vielen Menschen nichts anderes übrig, als zuversichtlich zu sein. Noch vor zwanzig Jahren ging es Kolumbien sehr schlecht, das Volk wurde von Guerilla-Organisationen terrorisiert. Wenn die Bevölkerung damals nicht zuversichtlich gewesen wäre und sich auf bessere Zeiten gefreut hätte, dann wäre das kaum auszuhalten gewesen. Und dieser Optimismus, ist heute noch zu spüren. Darum erfreut sich der Kolumbianer an den kleinen Dinge im Leben. Wenn zum Beispiel die Kolumbianische Nationalmannschaft 1:2 verliert, dann freut sich der Kolumbianer über das eine Tor und legt sich glücklich schlafen. Ich finde das beeindruckend und schön.

Ich habe den Kolumbianer, den Guatemalteke, den Nicaraguaner gerne bekommen. Auch wenn sie es einem nicht immer ganz einfach machen, sie zu verstehen. Vieles gab mir zu denken. Zum Beispiel dann, wenn ich die Tür zu einem Raum öffne, und dann vergebens rechts und links nach dem Lichtschalter abtaste. Im Dunkeln muss ich mich dann mit meiner Handy-Taschenlampe auf die Suche machen. Finden tue ich ihn dann nicht selten auf der anderen Seite des Raumes. Am Anfang haben mich solche Situationen sehr nachdenklich gemacht. Ich fragte mich, wie das sein kann. Warum ist der Spiegel im Badezimmer auf Höhe meines Bauchnabels, warum hängt da ein Brett an der Wand, an dem alle Aufhängehacken abgebrochen sind. Warum hängt das Brett noch da? Oder dann dieses Türschliesssystem, bei dem man so ein Stäbli rüber schieben muss, in ein am Türrahmen befestigtes Röhrchen. Dutzende Male durfte ich feststellen, dass das Röhrchen nicht auf der selben Höhe ist, und die Tür somit nicht, oder nur mit Einsatz meiner ganzen Manneskraft verschliessbar ist. Einmal, habe ich aus Versehen die Tür ausgehängt, beim Versuch, das Stäbchen in das Röhrchen zu hieven. Ich könnte stundenlang, natürlich nicht, sagen wir minutenlang, so eine Schliessvorrichtung, oder ein Lichtschalter anschauen, und mich fragen, was hat ächt dieser Hausplaner gedacht, als er dieses Ding genau hierhin platziert hat. Oder was ging diesem Typen durch den Kopf, als er den Spiegel auf Höhe meines Bauchnabels montiert hat? Wenn man die dann damit konfrontiert und mal fragt, warum denn der Lichtschalter auf der anderen Seite des Raumes ist, dann schauen die einem ganz verdutzt an, können die Frage gar nicht nachvollziehen. Mit der Zeit begann ich zu verstehen, dass die Menschen hier einfach etwas anders funktionieren. Das hat nichts mit Dummheit zu tun. Der Nicaraguaner geht in einen Raum, und macht halt das Licht dort an, wo zufällig mal jemand den Lichtschalter platziert hat. Der überlegt sich nicht, wo ächt der beste Standort dafür wäre. Oder wenn die Häckchen an einem Brett abgebrochen sind, warum sollte man das Brett dann abmontieren? Es stört ja niemand. Wenn der Spiegel etwas tief ist, dann bückt sich der Guatemalteke halt eben, eine schöne Frisur geht auch so. Oder wenn eine Tür nicht mehr verschliessbar ist, dann ist das halt so, das Geschäft kann auch so erledigt werden. Der Nächste merkt dann schon noch früh genug, dass das Benützen dieser Toilette jetzt unpassend ist. Der Kolumbianer ist nicht lösungsorientiert, ist nicht am einfachsten Weg interessiert, etwas zu erreichen. Er macht es einfach, wie er es immer gemacht hat. Er fragt sich nicht, wie man es besser machen könnte. Ich hatte zuerst Mühe diese Eigenschaften, diese Denkweise zu verstehen. Diese naiv-sympathische Art, mit einem Hauch Gleichgültigkeit, bringt mich heute immer wieder zum schmunzeln. Der Schweizer nervt sich fürchterlich, wenn er einen Lichtschalter suchen muss oder wenn er mit Haargel in den Händen das Beste aus sich herausholen möchte, dann aber an seine Bauchbehaarung schauen muss. Der Nicaraguaner nervt sich nicht, denn es ist halt so. Diese Einstellung hilft, Nerven zu schonen, und unbeschwerter durchs Leben zu gehen. Aber, das muss man sagen, es hat schon auch seine Kehrseite. Denn der Kolumbianer ist nicht ehrlich, oder hat eine andere Einstellung zum Thema Wahrheit und Zuverlässigkeit. Wenn man sich mit einer Kolumbianerin am Dienstag Abend verabredet, heisst das nicht, dass man sich dann tatsächlich trifft. Kurzfristig absagen ist hier normal, Entschuldigungen nicht nötig. Das Zuspätkommen ist hier eh völlig normal, und bedarf keiner Entschuldigung. Wenn ich auf einen Bushof gehe, und mir ein Typ sagt, dass der Bus um 18:20 losfährt, dann weiss ich vor allem eins, dass dieser Bus dann todsicher nicht geht. Und das ist ja auch schon eine Information. Hier muss man lernen, Aussagen relativ zu sehen, versuchen eine Aussage oder Situation zu interpretieren. Wenn einer mir etwas verkaufen will, zum Beispiel ein Busticket, dann kann der mir direkt ins Gesicht lügen. Die Versprechen einem Wifi, Klimaanlage und viel Platz. Wenn ich im Bus dann nach dem Wifi-Passwort frage, sagt der Chauffeur jeweils: «Heute geht’s grad nicht».

Ich werde den Kolumbianer, den Nicaraguaner, den Guatemalteke vermissen. Auch, das Leben als Reisender. Die Freude an einem so tollen Ort zu sein, gepaart mit der Vorfreude auf das nächste Reiseziel. Das ist ein Gefühl, das nicht in Worte zu fassen ist. Angefangen hat alles vor fast sechs Monaten, im kleinen Guatemaltekischen Kolonialstädtchen Antigua. Was für ein toller Kulturschock. Verrückte Märkte, prächtige Kirchen, umgeben von grünen Vulkane. Zum ersten Mal kam ich in Berührung mit der Zentralamerikanischen Hausplanung, wo die Lüftung der Toilette direkt in die Küche zieht. Nach zwei Wochen Spanischschule begann für mich die Reise. Mit dem Kajak durch den Dschnungel des Rio Dulce. Das erste Mal, dass ich vor Freude eins-zwei Tränchen nicht mehr aufhalten konnte. Der surreale, märchenhafte Sonnenuntergang auf der Nicaraguanischen Vulkaninsel Ometepe war auch so ein Moment. Ich habe verlassene Karibische Trauminseln erforscht, Vulkane erklimmt, surfen gelernt, Inselvölker kennengelernt, die Tiefen des Dschungels erforscht. Ich war in der Wüste, im felsigen Gebirge, ich habe in Grossstädten gelebt, die mehr Einwohner haben wie die ganze Schweiz. Und, ich bin Menschen begegnet, die mein Abenteuer zu dem gemacht haben, was es war: Die schönsten, glücklichsten Monate meines Lebens.

Und nun? Mal schauen was passiert. Ich komme mal nachhause. Etwas ärmer auf dem Konto, dafür viel reicher im Herz.

Dieser Reiseblog findet hier also sein Ende. Fortsetzung nicht ausgeschlossen. Gar nicht 🙂

 

 

 

 

5 Comments on “Schlussgedanken”

  1. Ja, die Lichtschalter. Ja die Infos die nicht richtig sind. Eso es. Dennoch. Es braucht extrem Zeit um das alles zu verstehen, verdauen, akzeptieren.

    Danke für deinen Besuch in Capurgana. Kolumbien.
    Silvio und Beatriz

  2. Hola Remo

    Ja, alles hat mal sein Ende oder ein Neuanfang.

    Das mit den Lichtschalter ist echt nervig. Habe mich von mehrmals darüber genervt.

    Dennoch. Alles ist den Kolumbianern gleichgültig oder nicht wichtig. Und hier ist der Grund warum keine Entwicklung vonstatten geht.

    Wir das Bahngleis, wo du das Motorrad vom Gleis nehmen musst, wenn zwei sich kreuzen wollen.

    Kann natürlich alles unter Abenteuer und andere Kulturen abgebucht werden…..

    Wie sehen deine Pläne aus ?

    Saludos

    Silvio Hostal Capurgana, Capurgana

    P.S.

    Wir haben seit 2 Wochen keinen Strom. Für mich neuer Rekord. Überall rattern die Generatoren. Unser Generator vom Hostal ist kaputt. Mussten notfallmässig einen neuen kaufen. Na ja……

  3. Hola Remo

    Myanmar steht auf deiner Liste. Wir waren letztes Jahr dort.

    Wichtig:

    Nimm nur neue Dollarnoten mit. Wir hatten gute Noten; dennoch Probleme diese loszuwerden. Mach dich schlau im Internet.

    Wir hatten im ganzen Monat nie eine Strassenkontrolle….. Dies zum Thema Militärdiktatur.

    Online Visa in 10 Tagen. Alles super einfach.

    Nun hat es genügend Hotels. Die Info vorausbuchen ist veraltet.

    Bin gespannt auf deine News.

    Saludos Silvio, Hostal Capurgana, Colombia

  4. Hola Remo

    Thailand, Bangkok. Ich hatte die gleichen Erlebnisse wie Du. Wusste auch nicht, dass im Massagesalon ein Happy ending angeboten wird……..

    Auch bin ich einmal auf ein Maedchen reingefallen, dass dann ein Ladyboy war.

    Na ja.

    Vergiss nicht neue Dollarnoten fuer Myanmar mitzunehmen.

    Saludos

    Silvio Hostal Capurgana

    Am 11. September 2016 um 22:14 schrieb Silvio Gubler :

    > Hola Remo > > Myanmar steht auf deiner Liste. Wir waren letztes Jahr dort. > > Wichtig: > > Nimm nur neue Dollarnoten mit. Wir hatten gute Noten; dennoch Probleme > diese loszuwerden. > Mach dich schlau im Internet. > > Wir hatten im ganzen Monat nie eine Strassenkontrolle….. > Dies zum Thema Militärdiktatur. > > Online Visa in 10 Tagen. Alles super einfach. > > Nun hat es genügend Hotels. Die Info vorausbuchen ist veraltet. > > Bin gespannt auf deine News. > > Saludos > Silvio, Hostal Capurgana, Colombia > >

  5. Hola Remo

    Ja, ein Land so ab von den Lonley Planet Pdaden zu erkunden macht Spass. Wir planen Japan im naechsten Jahr. Kennst Du Jemanden der uns auch so Tipps aus erster Hand geben kann ?

    Und… vergiss die neuen USD Noten nicht fuer Myanmar.

    Saludos Silvio

    Am 11. September 2016 um 22:14 schrieb Silvio Gubler :

    > Hola Remo > > Myanmar steht auf deiner Liste. Wir waren letztes Jahr dort. > > Wichtig: > > Nimm nur neue Dollarnoten mit. Wir hatten gute Noten; dennoch Probleme > diese loszuwerden. > Mach dich schlau im Internet. > > Wir hatten im ganzen Monat nie eine Strassenkontrolle….. > Dies zum Thema Militärdiktatur. > > Online Visa in 10 Tagen. Alles super einfach. > > Nun hat es genügend Hotels. Die Info vorausbuchen ist veraltet. > > Bin gespannt auf deine News. > > Saludos > Silvio, Hostal Capurgana, Colombia > >

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